Wann ziehen wir endlich den Schlussstrich? : von der Notwendigkeit öffentlicher Erinnerung in Deutschland, Polen und Tschechien
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Viac o knihe
Der Schriftsteller Martin Walser hat vor Jahren öffentlich gemacht, was viele empfinden, er hat damit spontanen Beifall und anhaltenden Streit ausgelöst: Überdruss an einem Thema, das peinlich berührt, das ratlos und verlegen macht, dem gegenüber „normale Verhaltensweisen“ nicht möglich sind. Das Plädoyer für die Privatisierung der Erinnerung an den Holocaust, für den Schlussstrich unter belastete Vergangenheit, hat eine Diskussion in Gang gesetzt, in der die Emotionen vieler Bürger öffentlich artikuliert wurden als Motive zur Abwehr kollektiver Erinnerung an Auschwitz und andere Verbrechen des Nationalsozialismus, keineswegs zur Leugnung des Geschehens oder zur Abwertung von Schuld, wohl aber zur Ausgrenzung des Themas aus dem öffentlichen Diskurs und damit zur Relativierung des Sachverhaltes: Es gäbe andere Probleme, so das Argument, die aktueller und bewegender seien. Außerdem, so das flankierende zweite Argument, seien die Ereignisse mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, eine zweite und dritte Generation von Schuldlosen wachse heran und habe doch wirklich nichts mehr mit den einstigen Untaten im deutschen Namen zu tun. Das Argument wird in der Regel mit der Schuldfrage verknüpft, es lässt außer acht, dass Opfer und ihre Nachkommen anders empfinden und dass das Trauma der Verfolgung keinen Zeitbegriff hat. Öffentliche Erinnerung ist an Gedenktagen und durch Monumente, mit Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Museen in einer facettenreichen Memorialkultur allgegenwärtig, ihr drohen die Gefahren der Ritualisierung und Ästhetisierung, aber sie ist notwendig für die politische Kultur des Landes. Das öffentliche Erinnern an die nationalsozialistische Zeit wird von vielen mit dem Wunsch nach einem scheinbar erlösenden Schlussstrich verweigert. Der Hinweis auf deutsche Leiden, auf den Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung oder auf die Vertreibung Millionen Deutscher aus Ost-Mitteleuropa ist oft der Versuch, deutsche Untaten gegen Reaktionen anderer aufzurechnen, oft aber auch der Wunsch, von kollektiver Erinnerung befreit zu werden, aus den Schatten der Vergangenheit herauszutreten. Auch Tschechen und Polen leiden an historischen Traumata, die in der Erinnerung an die deutsche Okkupation, dann, als deren Folge, aus sowjetischer Dominanz entstanden sind. Eine Tagung der Evangelischen Akademie Görlitz war im April 2003 dem Umgang mit schwieriger Geschichte in Deutschland, Polen und Tschechien gewidmet. Vier Themenfelder sind, jeweils aus polnischer, deutscher und tschechischer Perspektive, abgeschritten worden: Die institutionalisierte Erinnerung mit Gedenkstätten und Ritualen, das gesellschaftliche Trauma von Okkupation, Flucht und Vertreibung in drei Nationen, die Probleme von Opfern und Tätern, die Fragen von Schuld und Versöhnung. Die Überlegungen von zehn Autoren sollen dazu beitragen, den Diskurs im Geiste der Nachbarschaft als Brückenschlag weiterzuführen.