Spazierengehen - verschollengehen
Autori
Viac o knihe
Gehen und Schreiben. Diese unterschiedlichen Tätigkeiten bringen Robert Walser und Franz Kafka durch ihre literarische Sprachgebung des Paradoxen in Auseinandersetzung. Sie tilgen das traditionelle zeitliche Nacheinander, Gehen und Schreiben werden in ihren Texten gleich ursprünglich. Grundlegend vergleichbar sind diese beiden markanten Autoren der Moderne darin, dass sie die Erfahrung des Wirklichen über das Erzählen konstituieren. Radikal jenseits zu gestalteten fiktionalen Welten im literarischen Text legt hier die Textwirklichkeit überhaupt erst einen Zugang zur Welt. In einer Verzahnung von Gehen, Wahrnehmung und Schrift wird Robert Walsers 'Spazierengehen' zweifach wirksam. Das Gehen deutet auf die Schritte der Textherstellung hin: auf das zeichnerische und bildende Moment der Schrift, das wie das Gehen auf der Landstraße auf der Fläche des Papiers die Bewegung des Sprachverfahrens spielerisch hervorbringt. Walsers Texte verlaufen entlang begangener Sprache und entlang artikulierter und damit begehbarer Welt. Franz Kafkas Fragment Der Verschollene führt das sukzessive Verschollengehen des Protagonisten in einem fortschreitenden Auslegungsverfahren des Erzählten vor. Nach der paradox konnotierten Idee der Verschollenheit beschreibt der Roman eine Reise in Amerika, die immer wieder auf den Ausgangsort Europa zurückweist und so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschränkt. Der als textuelles Auslegungsverfahren gefasste Schreibprozess, der Textwirklichkeit und Möglichkeit wechselseitig hervorbringt, ist dem Öffnen eines Raumes vergleichbar, in dem man nichts Bestimmtes sieht und in dem man auf nichts Bestimmtes stößt, außer auf den Grund der Suche - die aufrechtzuerhaltende Existenz. Sabine Rothemann ist Mitherausgeberin des dreibändigen Sammelwerkes „Die literarische Moderne in Europa“. Seit 1997 arbeitet sie als freie Publizistin.