Der Kalender und die Folgen
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Viac o knihe
Ein Buch, das »Jahrestage« heißt, muss auch von der Erinnerungstechnik Jahrestag handeln. Mit dieser verblüffend einfachen Hypothese legt Thomas Schmidt das breite Spektrum von Jahrestagen in Uwe Johnsons großem Roman frei und eröffnet der Interpretation auf diese Weise einen neuen Zugang. Im Anschluss an aktuelle kulturanthropologische Debatten zeigt der Autor in einer subtilen Analyse, dass Johnson mit dem Jahrestag eine kollektive Mnemotechnik auf ihre literarische und kulturelle Leistungsfähigkeit hin prüft. Daraus ergeben sich Präliminarien zu einer Theorie des kalendarischen Erinnerns, die einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Diskussion über das kollektive Gedächtnis und seine Medien darstellen. Im Zentrum der philologischen Untersuchung steht die Offenlegung eines vom jüdischen Festkreis getragenen Referenztextes, an dem Johnson seine Erzählung orientiert und an dem er das deutsch-jüdische Verhältnis nach dem Holocaust zur Sprache bringt. Dieser Referenztext birgt auch das Programm des Romans – und das heißt Überlieferung, zu der die jüdische Gedächtniskultur die entscheidenden Stichworte liefert. Aus dieser Perspektive hat Johnsons Hauptwerk an Aktualität nichts eingebüßt. Es nimmt nicht nur die deutsche Schuldgeschichte im 20. Jahrhundert zum Gegenstand, sondern siedelt das Überlieferungsexperiment auch auf jener gegenwärtig erreichten Schwelle im kollektiven Gedächtnis an, an der sich die Erinnerung von ihren personalen Trägern löst und endgültig in andere Medien übergeht – oder verlischt.