Blutacker
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Viac o knihe
„Eine Stätte der Geister! Die Erde blutgetränkt! Häuser und Paläste auf dem Schweiß der Tagelöhner erbaut! Friedhöfe voller Leichen, deren Seelen Gott um Rache anflehen! Ein Abgrund der Finsternis, dessen Boden fruchtbar genug für tausend Judasbäume ist!“ Mit diesen Worten beschrieb der Prediger die Stadt London, in der er im Herbst 1380 Einzug gehalten hatte. „Die Hure Babylon!“ hatte er von den Stufen der Cheap-side gedonnert. „Stätte des Großen Drachens!“ Sahen die Einwohner denn nicht, daß Satan samt all seinen gefallenen Seraphim wie dunkle Wolken und schwarzer Rauch vom Schlachtfeld der Seelen aufstieg und über den Himmel von ganz London zog? Ein Strom solch blumiger Sprüche ergoß sich aus des Predigers Mund. Doch seine Worte machten wenig Eindruck auf die Einwohner Londons, und noch weniger wirkten sie auf die edle Flotte des Königs, die gerade von der Patrouille aus dem Kanal zurückgekehrt und an den Kais an der Themse vor Anker gegangen war. Die Ma-trosen waren an Land geströmt, und die Schenken und Straßen hallten von ihren heiseren Stimmen und Ausgelassenheiten wider. Angewidert zog der Prediger seine Sandalen aus und schüttelte den Staub ab, ein Zeichen dafür, daß er seine Aufgabe für beendet hielt. Mit den Bewohnern dieses neuen Babylon wollte er nichts mehr zu tun haben. Jetzt saß er in der Schenke „Zum Löwenherz“, die sich auf der anderen Seite der Themse, am Rande von Southwark befand. Der Prediger war durch die engen, elenden Straßen gegangen, wo der Schmutz aus den offenen Kloaken die schmalen Gassen und Rinnsteine überschwemmte. Er hatte die Bordelle und Freudenhäuser, die Aleschenken und Wirtshäuser gesehen. Bevor der Abend kam, hatte er sogar vor dem Pranger gestanden und zugesehen, wie ein Mann seine Ohren vom Holz losreißen mußte, an das sie genagelt waren; seine zerfetzten, blutenden Ohren, die ihn bis ans Ende seines Lebens brandmarken würden, waren ein eindeutiges Zeichen dafür, daß Recht und Gesetz des Königs zur Geltung gebracht worden waren. O ja, das Leben war voller Unbill! Der Prediger hatte seine Schuldigkeit getan. Er würde London verlassen und hinunter zu den Fünf Häfen ziehen. Einige brave Damen auf der Cheapside hatten ihm Silbermünzen gegeben. Der Prediger hatte sie an sich gerissen und ihnen dann ins Gesicht gespien. „Frauen von London! Noch immer zeigt ihr keine Reue!“ Dabei hatte er anklagend auf ihre geschminkten Gesichter und gezupften Augenbrauen, auf ihren prächtigen Kopfputz mit den zarten Batistschleiern gezeigt. Er hatte ihre damastenen Kleider verspottet, die schmalen Tail-len und tief ausgeschnittenen Brokatleibchen über dem schwel-lenden, elfenbeinweißen Fleisch und den schlanken Schwanenhälsen, deren Schönheit von Gold- und Silberkrägen noch betont wurde.