Mythische Kohärenz
Autori
Viac o knihe
Eva-Maria Ziege beschreibt die verborgenen Strukturprinzipien des völkischen Antisemitismus, um die Dynamik im Prozess seiner allmählichen Radikalisierung freizulegen. Ihre Analyse der judenfeindlichen Stereotype zeigt, wie ein antisemitischer Diskurs funktioniert und wie er sich immer wieder erneuert und aktualisiert. In ihrer Studie knüpft sie an Pierre Bourdieus Modell der sprachlichen Produktion und Zirkulation an. Wert und Sinn von Diskursen kommen danach erst im pragmatischen Zusammenhang mit einem Feld zustande, das wie ein Markt funktioniert. Dementsprechend analysiert die Autorin den völkischen Antisemitismus mit Blick auf die je spezifische Stellung seiner Produzenten innerhalb des völkischen Feldes. Dieses bestimmte nicht nur deren Ausdrucksstreben und die Form und Stärke der strukturellen Zensur, der sie unterworfen waren, sondern auch die Form ihrer Rezeption. Mit dem sprachlichen Markt der Völkischen zeichnet die Autorin zugleich die komplexe politische Topographie einer Bewegung nach, die sich von der der Antisemiten vor 1900 zu der der Völkischen vor 1914 entwickelte. Diese weitete sich zu einer antiliberalen Sammelbewegung nach 1918 aus, die von den Nationalsozialisten seit 1930 zunehmend absorbiert wurde, bis sie im nationalsozialistischen Deutschland 1936/37 gleichgeschaltet wurde. Die Arbeit macht deutlich, dass das Charakteristikum des völkischen Diskurses in seiner strukturellen Ambivalenz liegt. Aus seinem ständigen Schwanken zwischen wechselnden, paradoxen, ja widersprüchlichen Positionen erzielte er seine größten ideologischen Wirkungen. Trotz seiner wirren Widersprüchlichkeit blieb er stets kohärent. Dies war indes keine rationale, sondern eine mythische Kohärenz, die aus einem Netz teils offener, teils verborgener Entsprechungen entstand. Aus den inneren Widersprüchen folgte eine strukturelle Radikalisierung des Antisemitismus, ein Prozess des nicht mehr Haltmachenkönnens, der die Vernichtung der Juden regelrecht „erzwang“. In der Tradition Freuds wurde Antisemitismus vor allem als männerspezifisches Syndrom von Judenfeindschaft und Misogynie dargestellt. Die Autorin zeigt, wie Gegendiskurse von Textproduzentinnen entstanden, die die Radikalisierungsspirale frauenspezifisch vorantrieben. Aus den materialen Analysen abgeleitet sind narrative Exkurse zu Themen, die für die Völkischen zentral, aber nicht spezifisch waren: zu zwei bedeutenden sozialpolitischen Bewegungen, der Rassenhygiene und der Frauenbewegung, sowie zu zwei politisch-soziologischen Begriffsfiguren, der des „Männerbundes“ und der der „großen Mutter“. Sie verdeutlichen, wie der völkische Diskurs von der Jahrhundertwende bis über 1945 hinaus seine Wirkung gerade durch den stetigen Austausch mit solchen sprachlichen Märkten vervielfachen konnte, die nicht völkisch waren. Über ihren Beitrag zur Antisemitismusforschung hinaus belegt die Autorin den heuristischen Wert der Diskursanalyse zur Untersuchung von Mentalitäten, Denkmustern und Ideologien.