Goethe, Schiller und die verschleierte Wahrheit
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Viac o knihe
Es liegt im Wesen der Mysterien begründet, sich der Öffentlichkeit zu entziehen. So scheint sich die Mysterienkultur der „Faust“-Dichtung sogar vor den achtsamen Augen der Literaturwissenschaft im Wesentlichen entzogen zu haben. Doch während Goethe die Mysterieninhalte in seinem „Faust“ verschleierte, findet sich bei seinem Dichterfreund Schiller eine ganz offene Behandlung der Mysterien. In Schillers Ballade „Das verschleierte Bild zu Sais“ geht es um einen jungen Priesterlehrling, welcher den Schleier von der Statue der im Tempel zu Sais verehrten Isis heben möchte, um die „Wahrheit“ zu „schauen“. Die Schau (auch „Epoptie“ genannt) der Gottheit, beziehungsweise Wahrheit, ist in den Mysterien eine zentrale Vorstellung, die mit der höchsten Einweihungsstufe verbunden ist. Es ist das gleiche Mysterienmotiv, dem Doktor Faust am Ende seines Weges durch die zwei Teile der „Faust“-Dichtung in Form der mystischen Gestalt der Mater Gloriosa begegnet, der „Himmelskönigin“ deren „Geheimniß“ Faust „schauen“ möchte. Die mystisch-göttliche Erscheinung der Mater Gloriosa bildet das krönende Schlussbild für den Einweihungsweg in die Mysterien, der bereits in „Faust I“ mit den ersten Szenen von Doktor Faust begann. Über die offene Behandlung der Mysterien bei Schiller lassen sich Motive und Vorstellungen der Mysterienkultur in Goethes „Faust“-Dichtung anschaulich verdeutlichen. Darüber hinaus werden konkrete antike Quellen herangezogen, welche die Einweihung in die Mysterien beschreiben und für das Mysterienverständnis der Weimarer Klassik maßgeblich waren, wie beispielsweise Apuleius' Erzählung „Der goldene Esel“, in welcher der Held der Geschichte die Göttin Isis schauen darf, nachdem er sie als „Königin des Himmels“ angerufen und zu ihr gebetet hatte. Auf diesem Wege soll ein kleiner Beitrag geschaffen werden, um den großen Einfluss der Mysterienkultur für das wohl bedeutendste Werk der deutschen Literatur, Goethes „Faust“-Dichtung, zu verdeutlichen, und so womöglich die Mysterienkultur des „Fausts“ aus der Versenkung auch ins Zentrum der Analysen und Publikationen des wissenschaftlichen Mainstreams zu führen.