Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit
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Viac o knihe
Dezember 1943: Wieder einmal stand ein Kriegsweihnachten vor der Tür. Wir bastelten in der Kindergruppe Weihnachtspyramiden. Eine ganz besonders schöne sollte die Kreisfrau erhalten. Ich sollte ein Gedicht vom Knecht Ruprecht lernen und es bei der Übergabe des Geschenkes aufsagen. Ob es dazu gekommen ist, daran erinnere ich mich nicht mehr. Mit roten Backen zupften unsere kleinen Hände an Leinenfleckerln, die zur Herstellung von Verbandstoffen, für die verwundeten Soldaten gebraucht wurden. Diese Arbeit mussten wir vor dem Spielen erledigen. „Kommt dein Vati Weihnachten heim?“, fragte mich ein Mädchen. „Ich glaube nicht“, entgegnete ich traurig. Wir wussten nie, wann unser Vater Fronturlaub bekam. Am Abend sagte ich zu Mutti. „Ich wünsche mir heuer nichts anderes vom Christkind, als den Vati unterm Christbaum“. Mama bekam feuchte Augen. Von diesem Tag an dachte ich an nichts anderes, als an Vati und das Christkind. Die Zeit vor dem Heiligen Abend war trotz der Bomben und der vielen Entbehrungen auch in der Kriegszeit geheimnisvoll. Mutters Nähmaschine ratterte bis lange in die Nacht hinein und so manches Stoffstück verschwand ganz plötzlich, wenn ich in die Küche kam. Rezepte wurde unter den Frauen ausgetauscht, so auch ein Rezept eines Topfenstollens, den Mutter unbedingt probieren wollte. Der Heilige Abend rückte immer näher - kein Fronturlaub für unseren Vati. Dann war es soweit: Das Kalenderblatt zeigte endlich den 24. Dezember an, meine Mutter tätigte mit einer beängstigten Ruhe die letzten Vorbereitungen für das Fest. Plötzlich, es war die Zeit wo der Urlauberzug am Bahnhof ankam, zog Mutter ihren Mantel an. Sichtlich nervös befahl sie Leo und mir, uns zu beeilen. Wir gingen in Richtung Bahnhof los. Der Zug fuhr ein. Soldaten stiegen aus. Alle hatten fröhliche Gesichter, durften sie doch Weihnachten bei ihren Familien verbringen. Vati war nicht dabei. Mir war zum Heulen zumute. Doch da, aus dem letzten Wagon stieg eine vertraute Gestalt aus. Ich rannte los. „Vati, Vati“, rief ich und warf mich voll Freude in seine offenen Arme. Mutti und Leo, die Probleme hatten, mit mir Schritt zu halten, waren nun auch nachgekommen. Vater drückte meine Mutter fest an sich und sah sie verwundert und fragend an. Auch sie hatte nicht gewusst, dass mein Vater Fronturlaub bekommen hatte. Er wollte uns alle damit überraschen. Sie aber sagte: „Wir drei haben uns gewünscht, dass du zu Weihnachten bei uns bist.“ So hatte das Christkind vor allem während des Krieges alle Hände voll zu tun