Nah am Original
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Viac o knihe
Der Kunstgenuss beginnt vor den Originalen: Die Mona Lisa besucht man im Louvre, den Beethoven hört man in seiner Partitur und Instrumentierung, Shakespeare folgt man am besten auf Englisch. Doch bei den Errungenschaften der Naturwissenschaften scheint ein anderer Usus zu herrschen: Hier wird dem Bildungsbürger nur die abgespeckte und mundgerechte Version wissenschaftlicher Forschung serviert. Der Blick auf die Urfassung bleibt verwehrt. 2005 beauftragte die Hochschule der Künste Bern (HKB) literarische Autorinnen und Autoren für eine Veranstaltungsreihe, fünf bahnbrechende Arbeiten Albert Einsteins aus dem Jahr 1905 zu verlängern, zu kommentieren, zu kritisieren, ihnen zu widersprechen oder sie sprachkräftig zu bewundern. Postuliert wurde, dass kein Gedanke abstrakt ist, sondern stets eine reale Gestalt annehmen muss: Stil ist Erkenntnis. Auf dieser Ebene sollte die gleichberechtigte Auseinandersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft gelingen. Es entstanden fünf bemerkenswerte literarische Arbeiten, die auf jeweils eigene Weise vom sprachlich-gestischen Witz Einsteins durchdrungen scheinen: Die Lyrikerin und Übersetzerin Ilma Rakusa führt, bezogen auf Einsteins 'Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Gesichtspunkt', eine poetische Begriffsklärung durch; für den Quantenchemiker und Kulturmanager Michael Schindhelm ist die Begegnung mit Einsteins 'Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen' auch Anlass zum Dechiffrieren der eigenen Vergangenheit; der Sprachvirtuose Peter Weber fabuliert – ausgehend von 'Zur Elektrodynamik bewegter Körper' – über die Einsteinsche 'Unruhuhr', die nicht nur naturwissenschaftlichen, sondern ebenso höchsten poetischen Ansprüchen zu genügen hat; in einem oszillierenden Prosatext zu Einsteins 'Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?' zeigt der Lyriker Jürgen Theobaldy seinerseits die Leichtigkeit zweier bewegter Körper; und die Lyrikerin Sabine Wen-Ching Wang zappt sich in ihrem Prosagedicht durch die Große Erzählung der 'Theorie der Brownschen Bewegung'. So unterschiedlich die Herangehensweisen, so verschieden sind die gewählten literarischen Gattungen, die vom Dramolett über den Essay bis zur Erzählung reichen. Alle fünf Texte werden hier erstmals publiziert, zusammen mit Reprints von Einsteins Originalschriften, die in dieser Form bisher nicht greifbar waren. In seinem Nachwort schreibt Diethmar Dath über den Stilisten Einstein: 'Einstein gehört noch einer anderen wissenschaftlichen Welt zu als der seither gewordenen.'