Zwischen Utopia und Neuer Welt
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Nur wenige Schauplätze haben in der deutschsprachigen Literatur so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie Nordamerika: Spätestens seit Johann Gottfried Seumes Gedicht Der Wilde, seit Goethes Wilhelm Meister-Romanen nutzen Autoren diesen Ort als Projektionsfläche für ihre positiven oder negativen Gegenentwürfe zur eigenen Gesellschaft. Zu dieser Tradition, die sich bis in die Literatur der Jahrtausendwende fortsetzt, gehört auch Arno Schmidt. Denn auch Schmidt schreibt drei Romane, die teilweise oder ganz in den USA oder amerikanisch beherrschten Territorien spielen: Die Gelehrtenrepublik (1957), KAFF auch Mare Crisium (1960) und Die Schule der Atheisten (1972). Anders als bei den meisten prominenten Zeitgenossen des Autors - etwa Max Frisch, Uwe Johnson und Peter Handke - beruhen Schmidts Amerika-Beschreibungen aber nicht auf empirischen Erfahrungen des Autors und verweigern sich fast vollständig einer mimetischen Darstellung der amerikanischen Realität: Darin sind sie eher den großen Amerika-Texten der Klassischen Moderne, etwa denen Kafkas und Brechts, verwandt. Schmidts Amerika-Visionen spielen stets nach einem Dritten Weltkrieg, sind auf utopischen Inseln oder desolaten Mondbasen angesiedelt. Seine USA werden vom Militär oder einem matriarchalischen Regime beherrscht und sind von Zentauren und Amazonen bevölkert. Diese dezidierte Realitätsferne erstaunt auf den ersten Blick umso mehr, als Schmidt sich durchaus mit amerikanischer Literatur auseinandersetzt und unter anderem Übersetzungen von William Faulkner, James Fenimore Cooper und Edgar Allan Poe liefert. Dieser eklatante Widerspruch hat in der Forschung bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden. Stefan Höppners Arbeit ist die erste ausführliche Auseinandersetzung mit dem USA-Bild in Schmidts „amerikanischen“ Romanen. In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Heterotopie, an Wolfgang Isers Fiktionalitätstheorie und verschiedene Ansätze aus den Postcolonial Studies wird Arno Schmidt als Vertreter einer Tradition gezeigt, die bis zu den frühesten Reisebeschreibungen aus der Neuen Welt zurückreicht: Amerika wird zum reinen Gegen-Raum Europas, in dem sich die innereuropäischen Konflikte modellhaft darstellen lassen. Dabei treten die mimetischen Momente des Amerikabildes gegenüber seiner Funktion als Imaginationsraum zurück. Höppner liefert als erster Forscher eine ausführliche Analyse der Grundzüge in Schmidts USA-Bild und zeichnet deren Entwicklung durch das Werk nach. In den folgenden Teilen wird Schmidts Amerikabild aus der Perspektive der beiden literarischen Traditionen dargestellt, die es am deutlichsten prägen: die utopische Literatur und die - teils eben selbst realitätsferne - literarische Amerikadarstellung. Höppner zeigt auf, wie Schmidt hier vielfältige Impulse von Thomas Morus bis Jules Verne, vom mittelalterlichen Reisebericht des John Mandeville über Karl May und Cooper bis zur Literatur der 50er Jahre rezipiert und produktiv zu einem neuartigen Amalgam formt, das in der Nachkriegsliteratur eine ganz eigenständige Position einnimmt. Dabei werden auch die Brüche und Widersprüche innerhalb von Schmidts USA-Bild aufgezeigt.