Im Schatten der Moderne
Autori
Viac o knihe
Die historische Entwicklung der Stadt und ihrer Architektur wird gemeinhin als eine Abfolge wechselnder Para-digmen erzählt. Daraus leitet sich das durchweg statische Verständnis der so genannten „Brüche“ und „Kontinuitäten“ ab, das die Konstanz und nicht die Veränderung zu einem Hauptmotiv macht. Doch im Traditionsvollzug ereignet sich der Wandel und im Wandel erhalten sich wiederum Traditionsbezüge. Ein solcher Perspektivenwechsel be-leuchtet die Geschichte der modernen Architektur als prozessualen Akt in eine offene Zukunft, in der sich die Auto-nomie der Architektur x-beliebig konstituiert. Nachdem in der Baugeschichtsforschung die Werkbiografien prominenter Architekten dominiert haben, wecken mittlerweile die Architekten aus der „zweiten Reihe“ das fachliche Interesse. Dieser Fokus kann kontrastiv zu der konventionellen „Heldenbiografie“ eingesetzt werden, die bereits Teil der „großen Erzählung“ geworden ist. Gustav Lüdecke wurde 1890 in Erfurt geboren und wirkte als Architekt an der Gartenstadt Hellerau bei Dresden mit. Anfang der 1930er Jahre zog es ihn zurück nach Erfurt, wo er als Dozent an der Kunstgewerbeschule und als freischaffender Architekt tätig wurde. Eine derartige „Normalbiografie“ ist als Fallrekonstruktion geradezu prädestiniert, weil sie weit in das 20. Jahrhundert und damit über drei politische Systeme reicht. In einem Vergleich der Entwürfe, die Lüdecke während der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der DDR produziert hat, lassen sich keine eindeutigen Entwicklungslinien nachziehen. Insgesamt legt sich eine Ent-wurfshaltung über das Œuvre, das in seinem Pragmatismus besticht und sich jeder Hintergründigkeit entzieht. Er setzt ganz bewußt traditionelle und moderne Gestaltungselemente in seiner Architektur ein, die in ihrem Verhältnis zueinander weder einer Polarisierung unterliegen, noch einen linearen, chronologischen Verlauf nehmen. Für ihn war diese Ambivalenz keine Zerreißprobe, denn sein Handeln galt mehr oder weniger einer ganzheitlichen Lebens-reform. Natürlich können Rückschlüsse, die aus diesem Fall gezogen werden, nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. Doch läßt sich allein an einem Architektenwerk der Mythos der Moderne de-konstruieren, weil es neue Fragen auf-wirft, mit denen bisherige Annahmen und Urteile einer grundsätzlichen Überprüfung bzw. Neubewertung unter-zogen werden müssen. Holger Barth, Bauhistoriker, Dr.-Ing., geb. 1963 in Oldenburg, Architekturstudium in Hannover, 2003 Promotion, zahlreiche Veröffentlichungen zu Stadt und Architektur, lebt in Berlin.