Heilquellen in der deutschen Wissensliteratur des Spätmittelalters
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Die „Badenfahrt“ als Kurbesuch natürlicher Heilquellen wird im deutschen Raum während des Spätmittelalters gleichermaßen zur beliebten Therapieform verschiedenster Krankheiten wie auch zum gesellschaftlichen Ereignis. Begleitet wird dies durch zahlreiche fachmedizinische Schriften und durch Gebrauchsanleitungen für den Laien. Der erste und von den Zeitgenossen stark rezipierte Text dieser Gattung im deutschen Raum ist der um 1450 entstandene ‚Tractatus de balneis naturalibus’ des Zürcher Juristen und Theologen Felix Hemmerli. Provoziert durch die in seinen Augen sittenverderbenden Praxis der Badenfahrt bietet Hemmerli darin eine ausführliche Anleitung zur Selbstmedikation des Quellwassers und eine breit angelegte Übersicht über alle Heilquellen in Europa. Wesentliche Grundlage seines Werkes sind die im 14. und 15. Jahrhundert in Italien geschriebenen balneologischen Fachtexte, die aus der Vereinigung von deduktiver akademischer Medizin und empirischer ärztlicher Praxis ein neues wissenschaftliches Paradigma der Heilquellenanalyse und –gebrauchsanwendung entwickeln. Dieses sog. ‚Badeconsilium’, das aus dem Einzelfall generelle Regeln abzuleiten sucht, steht damit im Zusammenhang einer allgemein für die Wissenschaft im Spätmittelalter zu beobachtenden Hinwendung zur Empirie und wird für diesen Bereich ärztlicher wie laikaler Therapie vorbildhaft. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung der Entstehung dieses Paradigmas im Kontext von arabisch geprägter universitärer Medizin, der Entwicklung der Balneotherapie im spätmittelalterlichen Italien und der Texttraditionen antiker Heilquellenbeschreibungen und mittelalterlicher Enzyklopädistik. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Benutzung und Diversifizierung dieses Paradigmas in der wissensvermittelnden Literatur des deutschen Raums im 15. und 16. Jahrhundert, wobei dieses besonders gut am ‚Tractatus’ Hemmerlis und seiner Rezeption untersucht werden kann, weil in dieser Textkette vom lateinischen Fachtext bis zum deutschen Reimpaargedicht unterschiedlichste Textformen wissensvermittelnder Literatur und unter den Verfassern vom Mediziner über den Theologen bis zum Berufsschriftsteller verschiedenste Autorentypen mit ihren je unterschiedlichen Intentionen zu fassen sind. Dazu kommt, daß es die handschriftliche Überlieferung der Texte erlaubt, die Abhängigkeiten und Unterschiede der jeweiligen Fassungen genau zu rekonstruieren, so daß die Stellung der Autoren und Redaktoren zueinander und zu ihrem Thema in einem für die Zeit äußerst seltenen Maße außergewöhnlich präzise deutlich wird. Die Untersuchung leistet damit nicht nur einen Beitrag zur Medizin- und Wissenschaftsgeschichte des Spätmittelalters, sondern kann insbesondere auch an den behandelten Texten detailnah die Spezifika wissensvermittelnder Literaturproduktion des Spätmittelalters im Spannungsfeld von lateinischer Fachliteratur und volkssprachlicher Unterweisungsliteratur für Laien aufzeigen. Ergänzt wird die Untersuchung durch die erstmalige kritische Edition des ‚Tractatus de balneis naturalibus’ und seiner frühneuhochdeutschen Übersetzung.